»Wann bin ich wirklich ich?«

So titelt diese Woche die von mir sehr geschätzte Zeit. Und sie trifft damit genau eine Frage, die mich mehr als ein halbes Leben begleitet. Wohlbehütet in einer der oberen Mittelschicht angehörenden Familie im ländlichen Oberösterreich aufgewachsen, wurde alles Übel der Welt von mir ferngehalten — und auch alle Menschen, die »unter unserer Würde« waren. Arbeitslose, Geschiedene, Tätowierte oder sonstwie nicht den engen, katholischen Vorstellungen entsprechende Menschen gab’s nicht in meinem Leben. Die Mütter blieben bei den wohlerzogenen Gschrappen daheim und die Väter stürzten sich in die Karriere um das Architektenhaus, die zwei Autos und die zwei Urlaube im Jahr zu finanzieren. Bis sie vom Burn-Out, Depressionen oder einem Herzinfarkt eingeholt wurden.

Und in der ganzen Idylle wuchs die kleine Mlynárová auf, die schon als Kind den Tätowierten und den Punks hinterherguckte und das einfach toll fand. Heimlich, natürlich. Denn das so was daheim nicht gerne gesehen ist, war mir schon als Kind klar. Ich bekam ja nicht mal Ohrlöcher. Daraufhin entwickelte ich einen massiven Indien-Tick, aus dem einfachen Grund weil Inderinnen Nasenringe tragen durften.

Einige Jahre später, ich war inzwichen großjährig und im Studium sowie heimlich an Körperstellen, die Eltern garantiert nicht zu Gesicht bekommen gepiert, hatte 5 Ohrlöcher (die schon ein mittleres Drama waren) und mir selbst eine mehr oder weniger sternförmige Narbe in den Unterschenkel geschnitten, beschloss ich, dass es Zeit war für ein Nasenpiercing. Für die Erfüllung meines Lebenstraums. Dafür mein Aussehen selbst in die Hand zu nehmen. Also ging ich zum besten Piercer in Town und ließ mir den Nasenflügel mit einem kleinen, dezenten Steinchen piercen. Vor lauter Glück spürte ich nicht mal einen Hauch von Schmerz.

Zu Hause ging das drama los. Eine heulende Mutter. Ein angewiderter Vater. Fragen der Sorte »Was haben wir nur falsch gemacht«. Und ich fassunglos mittendrin. Ein Mini-Nasenstecker im Jahr 2002. Was für ein Drama. Ich hab ihn dann rausgenommen, heulend, weil ich mich selbst dafür gehasst habe. Weil ich wieder nachgebe. Weil ich wieder alles tat, um meine Eltern zufrieden zu stellen. Weil ich mir wie ferngesteuert vorkam.

Ein Jahr später: das erste Tattoo. Engelchen- und Teufelchenschwalbe mit Herz und Blumen am Oberarm in kitschig und bunt. Das selbe Drama. Eine Mutter, die wochenlang nicht mit mir redete. Und ich dachte mir nur mehr »Leckt mich am Arsch«. Die Ärmel wurden länger, die gezeigte Haut wurde weniger, die Tattoos und Piercings unter den Klamotten wurden mehr. Die Ohrlöcher gedehnt und immer mit Plugs getarnt. Das Septumpiercing hochgeklappt, wenn ich meine Eltern traf.

Irgendwann, so ca. 10 Jahre später, nachdem ich mir meinen volltätowierten und vollgepiercten Piercer geangelt habe — auch da waren 3 Monate Funkstille zwischen Muttern und mir — meinte sie dann: »Wegen mir brauchst nicht immer lange Ärmel tragen. Deine Tattoos sind mir inzwischen wurscht.«

Und so kam nach und nach das Outing. Beide Unterschenkel voll, Rücken angefangen, ein Sleeve fast fertig, Kleischeiß auf den Rippen, am Fußrücken, am Oberarm und am Handgelenk — und im Intimbereich, aber davon weiß sie nichts. Kein Drama. Keine Heulerei. Manches gefällt ihr sogar. Ich zeig ihr wenn ich was neues habe, es ist alles total entspannt. Mit den Piercings hat sie mehr Probleme, aber trotzdem war ihr das Labret-Piercing, das beim ersten Mal noch für einen Ausflipper sorgte, beim zweiten mal stechen lassen wurscht. Was sie nicht sehen mag sind das Septumpiercing und Tunnels in den gedehnten Ohrlöchern. Das is OK, in’s Septum kommt ein Retainer wenn wir und sehen und in die Ohren Plugs.

Und ich habe das erste mal in meinem Leben das Gefühl so akzeptiert, angenommen und geliebt zu werden, wie ich bin. Es ist so schön und ich bin meinen geliebten Eltern unendlich dankbar dafür.

Mir noch zwei Lippenpiercings stechen zu lassen trau ich mir trotzdem nicht. Beim bloßen Gedanken das Thema anzusprechen krieg ich Beklemmungen und Herzrasen. Gebranntes Kind scheut eben doch das Feuer.

2 Kommentare

  1. Ich kann dich sehr gut verstehen. Meine Eltern hatten/ haben ungefähr die selbe Einstellung zur Körperkunst… mit 14 bekam ich dann doch ein Bauchnabelpiercing erlaubt, mit 15 ein Nasenpiercing. Nichts was ich von Anfang an wollte – aber wenigstens etwas, was ich durfte!

    Das ich mir in der Nase aber einen Ring statt einem Stecker geben habe lassen war ein riesen Drama („Eine Kuh trägt einen Ring in der Nase, aber du nicht!“) Ich habe den Ring trotzdem getragen bis ich von alleine einen Stecker wollte.
    Danach gab es in meinen Teeniejahren oft Krach weil bei mir der Damm gebrochen war: ich kam immer mal wieder mit neuen Piercings heim. Erst wo man sie verdecken konnte, dann auch einfach sichtbar im Gesicht. Ich hatte mir eine „Leckt mich“ Attitüde zugelegt, die ich bis heute nicht bereue. Zur Akzeptanz gezwungen könnte man sagen;)

    Bei Tattoos war das natürlich schwieriger – das habe ich mir dann doch nicht so einfach getraut. Mit 17 ließen sich meine Eltern scheiden, als ich 19 war ging ich eines Abends ins Bad… und erwischte meine Mom, wie sich sich gerade einen Cartoonteufel am Bauch eincremte… Seit der Scheidung hatten wir ein besseres Verhältnis und ich habe den Spieß spontan umgedreht ala „Es war MEINE Aufgabe tättowiert nach Hause zu kommen und du ausflippst! Nicht anders herum, verflucht!“
    Danach durfte/musste sie mich zum Tättowierer kutschieren;)

    Seit dem werden es immer mehr Tattoos – was ihr aber immer noch nicht gefällt. Die Kommentare lasse ich jedoch einfach abprallen, weil ich weis was ich will. Sie motschkert nur an und ab das es nicht mehr mehr werden darf… denkste;-)

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    1. Kommt mir sehr bekannt vor! Wobei ich immer ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern hatte und mir extrem wichtig war/ist, dass das auch so bleibt. Mit der Folge, dass mein Abnabelungsprozess mit 31 noch immer nicht abgeschlossen ist …
      Wobei mir die Mama letzte Woche eröffnet hat, dass sie über ein Tattoo nachdenkt. aich hab geglaubt ich fall tot vom Sessel und wir hatten auch einen spontanen »Rollentausch«: »Überleg dir das gut und ich such den Tätowierer aus. Wenn du einfach so mit einem Tattoo heim kommst, bin ich sauer!« 😉

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